Predigt von Bischof Bertram am Pfingstsonntag, 5. Juni, 2022

De-Eskalation ist angesagt

Strahlen: Dieses Wort ist schillernd. Beim Gedenken an Tschernobyl und Fukushima ist es immer wieder in vieler Munde. Es geht uns durch Mark und Bein, es sitzt uns in den Knochen. Reaktorschock: Jeder weiß, was das bedeutet. Es gibt Strahlen, die schädlich sind, manchmal sogar tödlich. Man sieht sie nicht. Sie liegen in der Luft. Sie verseuchen Pflanzen und Tiere. Auch wenn sie heilen sollen - etwa Bestrahlungen nach schweren Krankheiten, oft zerstören sie Gesundes. Aber es gibt noch eine ganz andere Art Strahlen. Dasselbe Wort und doch ein Unterschied wie Tag und Nacht. Es jagt Schrecken ein und weckt Begeisterung. Jeder kennt Menschen, die strahlen, die etwas Besonderes ausstrahlen, die Ausstrahlungskraft besitzen.

Christus hat ausgestrahlt. Das kann man heute noch merken, durch die Jahrhunderte hindurch. Ich finde es als ermutigendes Symptom für das Leben eines oft schon totgesagten Christentums, was vor einigen Monaten in den Medien die Runde machte. Auf der Idolliste unserer Jugendlichen rangiert Jesus Christus immerhin auf Rang 6! Und dies bei einem recht müden, kraftlosen und zerstrittenen Fanclub, der sich Kirche nennt! Von den Skandalen, die uns belasten, ganz zu schweigen.

Jesus hat nicht nur etwas ausgestrahlt. Auf seinem Gesicht strahlt "göttlicher Glanz" (2 Kor 4,6). Jesus hat Gott ausgestrahlt, er war der Reflex Gottes. Dass wir uns nicht missverstehen: Jesus ist kein "Strahlemann", keiner vom Typ: "Immer nur lächeln". Er strahlt durch die Wunden, die er erlitten hat. Gerade durch Leiden und Tod bekommt sein Leben Ausstrahlungskraft – für Menschen und Schöpfung, Brot und Wein. "Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit" werden von seinen Strahlen erfasst und gewandelt, damit auch wir verwandelt werden.

Diese Wandlung feiern wir an Pfingsten. Christi Ausstrahlungskraft, sein Heiliger Geist kann Menschen verwandeln, er kann sie zum Strahlen bringen. Allerdings sieht die Wirklichkeit anders aus. Der Kirche, der Gemeinde fehlt es an Ausstrahlungskraft. Woran mag das liegen?

Pfingsten bietet sich an, über die Strahlen nachzudenken, die wir aussenden nach innen und nach außen. Dabei macht der Ton die Musik. Wie reden wir über uns selbst, die Kirche? Wie sehen sie aus, die Kirchenbilder, die wir malen und leben?

Da ist zunächst die „militante Festungskirchen, d.h. die Kirche, die sich in einer säkularisierten Welt bedroht weiß und darum die Bastionen auszubessern versucht. Ich meine die Bastionen der bergenden Autorität und der Disziplin und die Wachtürme des rechten Glaubens. Wo die militante Kirche sich formiert, setzt sie auf Eliten. Sie teilt das tiefe Bedürfnis aller Bunkerbauer, überall Betonverstärkungen anzubringen und sich selbst als "heiligen Rest" zu verstehen. 

Ihre Sprache betont Tradition und Autorität; sie vermeidet gewagte neue Formulierungen und schwelgt in langen Zitaten, die zwar richtig sind, aber langweilig. So wird ihr Auftreten steril und unpersönlich, manchmal sogar gefährlich, wenn sie anstatt Sauerteig zu sein wie Salzsäure wirkt. Der Festungskirche fallen Deklarationen, Klarstellungen, Urteile und Verurteilungen, Forderungen und Paragraphen in Fülle ein, aber niemals ein Sonnengesang. Es ist keine Sprache, die Tore aufmacht. Es fällt kein Ton mit Ausstrahlungskraft.

Daneben steht das Gegenteil: die "weiche Kuschelkirche". Aus dem Glacis der Festung baut man Boulevards und breite Straßen, aus denen jeder Stein des Anstoßes sorgfältig entfernt wird. Alle Mauern werden geschliffen. Man setzt auf grenzenlose Offenheit unter dem Motto: "Der katholische Magen verdaut alles." Man möchte eine Kirche als „offenen Markt der Möglichkeiten“ des mühelosen Zutritts, weitgehender Unverbindlichkeit und moralischer Billigangebote. Der provokante Weckruf, endlich vom Schlaf des Gerechten aufzuwachen, erklingt als "Hereinspaziert-Melodie". In solchen Tönen blitzt das Wort Gottes nie als "Schwert des Geistes" (Eph 6,17) auf, ein Bild, auf das das Neue Testament nicht verzichtet. Die Kuschelkirche setzt auf den kostenlosen Seelenservice. In der Waschmaschine ihrer Bußpraxis gibt es nur Weichspüler und Schongänge. Alles geht "locker vom Hocker". Sollte die katholische Kirche den Weg der weichen Kuschelkirche wählen, könnte ihr allerdings das blühen, was die Meinungsforscherin am Institut für Demoskopie in Allensbach Renate Köcher schon vor Jahren für unsere evangelischen Mitchristen konstatiert hat: „Das Problem der evangelischen Kirche ist: Sie hat nach Ansicht der Gesellschaft kein Gesicht, kein Profil.“ (SZ 25./26.5.96, 3) Was auf der Strecke bleibt: die Ausstrahlung.

Weder die militante Festungskirche noch die weiche Kuschelkirche haben Ausstrahlungskraft, sondern nur eine "geschwisterliche Christuskirche". Wir selbst können sie weder organisieren noch machen. Sie wächst einzig und allein aus der Erneuerung im Glauben. Dabei geht es um die Frage: Wer ist Herr im Haus der Kirche? Das betrifft die ganze kirchliche Sitzordnung. "ER sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters", beten wir im Glaubensbekenntnis. Er allein ist der Herr, sagen wir im Gloria. Jeder Amtsträger, auf welchem Platz er auch sitzt, auf dem Bischofsstuhl oder auf dem Priestersitz oder dem Heiligen Stuhl, jeder ist diesem Herrn verantwortlich. Alle Autoritäten in der Kirche haben nur so viel Berechtigung und Sinn, wie sie in der Nachfolge Jesu stehen und auf ihn als die letzte Autorität hinweisen. Es geht nicht um Macht, sondern um Dienst.

"Jesus ist der Herr", bedeutet auch: Die Kirche ist keine Demokratie, wenngleich sie demokratische Elemente lebt. Partizipation ist gefragt: Teilnahme und Teilhabe an der Vollmacht, die Jesus Christus der Kirche in den Schoß gelegt hat. Das ist für mich synodale Kirche. 

Angesichts der z.T. hitzigen Debatten, wie sich die Kirche in Deutschland erneuern soll, rate ich dringend zu einer De-Eskalation. Wir haben ein gemeinsames Anliegen, das uns antreibt: das Evangelium Jesu Christi nach vorn zu bringen. Da zählen weniger Eigeninteressen, sondern der Heilige Geist. Der soll durchkommen, nicht so sehr unsere eigenen Ideen, für die wir Lobbyarbeit machen. Die Grundlage für eine Erneuerung der Kirche ist der Glaube. Gehen wir wirklich vom Glauben aus – oder basteln wir uns ein eigenes Konzept zurecht? 

Als Kirche sind wir weder Demokratie noch Aristokratie noch Monarchie, wie wir das in weltlichen Kontexten kennen. Kirche soll der Raum sein, in der Gottes Herrschaft zum Zuge kommt. Sie durchkreuzt unsere gängigen Leitungsmuster, wo es nur um Macht, Kompetenz und Beziehung geht. Wer eine Gemeinde leiten will, braucht nicht nur ein Theologiestudium und professionelles Coaching, sondern eine Christus-beziehung, die dann durch das Sakrament der Priesterweihe öffentlich wird. Geistliche Leitung ist nicht so sehr eine Machtfrage, sondern beruht auf Voll-Macht (potestas). 

Doch der Priester ist kein Tausendsassa. Daher müssen wir uns helfen lassen; Laien sind keine Lückenbüßer, wenn die Pfarrer fehlen. Auch sie repräsentieren auf eigene Weise Christus durch Taufe und Firmung, durch die Salbung mit Chrisam. So stelle ich die Frage in den Raum: Wisst ihr denn nicht mehr, wem ihr eure Erlösung verdankt, auf welchen Namen ihr getauft seid? 

Ich wünsche uns für Pfingsten 2022, was Kardinal Franz König einst seinen Gläubigen im Wiener Stephansdom ans Herz gelegt hat:

"Kehrt um und besinnt euch wieder auf das Wesentliche. Verbrennt eure Gotteshäuser nicht so, wie es im Osten geschah, verbrennt eure Religion nicht so, wie das im Westen geschieht. Werdet selber wieder lebendige Gotteshäuser, baut die geistigen Dome eurer Heimat wieder auf." Amen.